Reichenberg feiert: Kleines Dorf ganz groß

Mit einem tollen Festwochenende hat das Dorf sein 700-jähriges Bestehen gefeiert

Wer sich unter dem Begriff „Festkommers“ eine steife, von ermüdenden Rückblicken geprägte Veranstaltung vorstellt, hätte mal am Samstagabend in Reichenberg dabei sein sollen. Denn die 179-Seelen-Gemeinde feierte ihr 700- jähriges Bestehen, ganz im Gegenteil, mit enorm viel Schwung und jeder Menge pfiffiger Ideen. Und das, obwohl die in mittelalterlichem Outfit agierende „ehemalige Dorfjugend“, eine Gruppe von acht dem Kindesalter eindeutig entwachsenen, aber ausgesprochen jugendlich wirkenden Reichenbergern, nach dem Eröffnungs- Fanfarenstoß eine „Ansammlung von Geschwafel und Geschwätz“ ankündigte. Er sei überwältigt, welche große Zahl an Besuchern den Weg ins kleine Reichenberg gefunden hätte, stieg Ortsbürgermeister Karl Heinz Goerke mit Blick auf das gut gefüllte Festzelt in besagtes „Geschwafel und Geschwätz“ ein und veranschaulichte die reiche, im Bau der Burg Reichenburg wurzelnde Geschichte des Ortes, für die er ansonsten auf einen ausführlichen Artikel in unserer Zeitung verwies, mit einem aus dem Jahr 1656 stammenden Original-Bannbrief: „Das ist Geschichte.“ Aber auch die Gegenwart kann sich offensichtlich sehen lassen. Denn, so der Ortschef weiter: „In unserer Gemeinde gibt es einen großen Zusammenhalt. Alle, gerade auch die junge Generation, bringen sich ein.“ Zusammenhalt – das war auch das Stichwort für Staatssekretär a. D. Günter Kern, der für die Reichenberger vorübergehend wieder im Dienst war und betonte: „Wir leben in einer Zeit, in der ein soziales Ungleichgewicht droht und rechte Umtriebe um sich greifen. Wir müssen alles tun, um uns dem entgegenzustellen – und wo könnte man das besser als in einer dörflichen Gemeinschaft?“ Er wünsche den Reichenbergern, dass ihre Geschichte sie weit über die Gegenwart hinaus in die Zukunft trage, so Kern: „Und dass ihr ein paar Einwohner mehr bekommt, denn das täte bestimmt auch der Gemeindekasse gut.“

Einen eleganten Bogen von der geschichtsträchtigen Vergangenheit ins Hier und Jetzt schlug auch Landrat Frank Puchtler. Der Kreischef bezeichnete Reichenberg als „Magnet des Rhein-Lahn-Kreises“ und fügte hinzu: „Der Entschluss des Grafen von Katzenelnbogen, zur Wegsicherung des Gebiets am Rhein hier an dieser Stelle eine Burg zu bauen, war eine strukturpolitische Investitionsentscheidung – genau wie die aktuelle Erneuerung der Ortsdurchfahrt und andere Maßnahmen, die der Weiterentwicklung des Dorfes dienen.“ Vom Feiern statt vom Straßenbauen sprach Marco Jost, Beigeordneter der Verbandsgemeinde Loreley. „Dass Gemeinden ihre Jubiläen mit einem Festakt begehen, ist nichts Außergewöhnliches – die Vielfalt an Veranstaltungen, die sich die Reichenberger haben einfallen lassen, aber sehr wohl.“ In der Tat reicht das Spektrum weit über das vergangene Festwochenende hinaus, vom Neujahrsempfang über eine Gemarkungswanderung, das traditionelle Rheinleuchten mit Rheinreise, das Feuerwehrfest, das Fest des Schützenvereins und das von der ehemaligen Dorfjugend gestemmte Backfest bis hin zum noch ausstehenden Silvesterempfang.

Apropos ehemalige Dorfjugend: Mit ihren szenischen Einlagen lockerten die Herolde und Marketenderinnen nicht nur das ohnehin schon kurzweilige Geschehen auf, sondern leiteten auch geschmeidig zu den verschiedenen Programmpunkten über. Zum Beispiel zum Auftritt des Projektchors, der als Nachfolge-Ensemble des nach dem Tod seines Leiters Karl Schaub aufgelösten Reichenberger Frauenchors in Aktion trat. Aus Schaubs Feder stammte denn auch einer der vorgetragenen Beiträge: Das in Mundart gesungene „Us Lied“, eine Reminiszenz an die Reichenberger Dorfidylle, die Schaub der Gemeinde widmete, gefiel den Zuhörern ebenso wie das mit Blick auf ein weiteres Reichenberger Markenzeichen ausgewählte Kinderlied „Es klappert die Mühle am rauschenden Bach“ oder das „Loreley- Lied“, das der amtierenden Loreley Tasmin Fetz die perfekte Steilvorlage für ein Grußwort bot. Damit nicht genug: Stefan Hopf, der Vorsitzende des Schützenvereins Horrido, begrüßte eine kleine Abordnung der befreundeten St. Ambrosius Gilde aus dem belgischen Ort, und auch die Kinoleinwand kam zum Einsatz. So zeigte ein Schwarz-Weiß-Streifen die Nassauische Kleinbahn, die einst in Reichenberg Station machte, und ein Ortsporträt aus der SWR-Fernsehserie „Hierzuland“ machte klar, was hier ohnehin jeder weiß: dass Reichenberg viel zu schön zum Aussterben ist.

Vollends zur runden Sache wurde das Spektakel durch die Bach- Boys, eine zur Hälfte aus Reichenbergern bestehende vierköpfige Band, die für den passenden spritzigen Sound sorgte, sowie durch einen flotten, irgendwo zwischen Mittelalter und Neuzeit angesiedelten Tanz der ehemaligen Dorfjugend. Und zum Schluss gab es noch eine besondere Ehrung. Der 83-jährige Karl-Heinz Michel wurde mit einer Urkunde und einem Gemälde der Burg überrascht. Er ist zwar nicht der älteste Reichenberger, lebt aber seit seiner Geburt und damit länger als jeder andere hier. Kein Wunder bei alledem, dass das Publikum der Aufforderung, den Saal „mit viel Handgeklapper“ zu füllen, ausgiebig nachkam.